Schriftsprache
Wenn die Entwicklung von komplexen Sprachen der wichtigste Meilenstein war für einen neuen Typ von Evolution - der gesellschaftlichen Evolution - so führt die Erfindung der Schriftsprache und ihrer aktuellen digitalen Nachfolger zu einer Globalisierung des Wissens. Jeder Mensch kann sich einer Wissensbasis bedienen, die weit über das hinausgeht, was sich mit sprachlicher Kommunikation in einem Leben erlernen ließ. Die kulturelle gesellschaftliche Evolution beschleunigt sich dramatisch durch sich selbst.
Vorboten und Anfänge der Schriftsprache liegen viele tausend Jahre zurück: Symbole für Zahlen oder von gegenständlichen Objekten, von Himmelsereignissen … und schließlich die phonetische Umschreibung des gesprochenen Wortes sind eine große kulturhistorische Leistung, beinhaltet die Transformation vom zeitlichen Ablauf des Sprechens zur räumlich organisierten Schrift. Viel davon verdanken wir den Phöniziern und Karthagern. Die Kodierung von Sprachelementen in (möglichst wenig) Schriftzeichen ist wegen der Klangvielfalt jeder Sprache problematisch. Aus dem Schriftbild fast aller Sprachen kann die tatsächliche Aussprache kaum erfasst werden wie am Beispiel der englischen Sprache deutlich ist. Lautschriften versuchen dem abzuhelfen, sind hilfreich beim Erlernen, weniger im praktischen Umgang mit einer Fremdsprache. Die Schriftsprachen sind durch Regelwerke für längere Zeit festgelegt und entwickeln sich nicht so lebendig wie gesprochene Sprachen. Traditionsbewusste Philologen verständigen sich umständlich und kontrovers über das jeweilige Regelwerk, ein unbeschwerter und großzügiger Umgang damit wäre effektiver und zeitgemäßer.
Seit Jahrzehnten vollzieht sich eine Entwicklung mit Auswirkungen vergleichbar der Erfindung des Buchdrucks: Die elektronischen Medien übernehmen Funktionen der Schrift, wandeln deren Verwendung und Akzeptanz. Es begann mit den „Tonkonserven", setzte sich mit Radio und Fernsehen fort auf verschiedenen Speichermedien für Gesprochenes, Musik und Gesang... Umfassendere mediale Inhalte können gespeichert und übertragen werden, ersetzten Stenogramm und so manches Buch. Nicht nur die inzwischen digitale Speicherung, Übertragung und Präsentation bewirken Wandel. Die Vernetzung über das Internet überbrückt globale Distanzen und öffnet den (zerstörungsfreien) Zugriff auf viel mehr Informationen fern von Bibliotheken.
Und dieser Wandel wird fortschreiten: etwa automatische Spracherkennung mit digitaler Speicherung, selbsttätig arbeitende Übersetzungsprogramme oder Lesegeräte für Handschrift verbessern sich ständig. Protokolle und Verträge, Buchmanuskripte … werden vielleicht bald sprachgesteuert und nicht mehr über Tastaturen eingegeben. Speichermedien werden Immer leistungsfähiger, Zeichen, Bilder, "Videofilme" werden kodiert gespeichert. Papier wird seltener als Speichermedium benötigt werden, Letterndruck verliert an Bedeutung und dennoch wird es auch künftig Liebhaber für Bücher in Papierform geben. Die Entwicklung wirkt auf Sprache und Schrift zurück, Dialekte verflachen, selten gebrauchte Worte verschwinden, Sprache wird ärmer und entwickelt sich schneller weiter. Neue Sprachtypen wie Programmiersprachen sind entstanden und inzwischen unentbehrlich. Die mathematische Schriftsprache verstehen nicht nur Menschen in aller Welt, auch Computer haben sie inzwischen interpretieren gelernt. Kaum vorstellen kann man sich, welch elegante Lösungen für die Mensch-Mensch- und die Mensch-Maschine-Kommunikation (einschließlich Roboter) in Zukunft üblich sein können und wohin uns diese Reise noch führen wird.